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virtuelles Kinderheim Rickenbach
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Tatsachen
Pro Juve über die Misshandlungen in Kinderheimen
Die beiden Kinderheime, in denen offenbar in den 60er und 70er Jahren Kinder misshandelt
wurden, stehen heute unter der Führung von Pro Juve – Caritas Jugendhilfe Hochrhein. Katja
Mielcarek unterhielt sich mit Caritas-Geschäftsführer Martin Riegraf über die Situation von
damals und heute.
BZ: Herr Riegraf, als die Misshandlungen in den Kinderheimen in Rickenbach und Bad Säckingen passierten, war von der Pro
Juve noch gar keine Rede. In wie weit sind Sie trotzdem davon betroffen?
Martin Riegraf: Wir sind über die Vorfälle sehr betroffen und bedauern diese außerordentlich. Da wir das Kinderheim von den
Ordensschwestern aus Altötting übernommen haben, sind wir natürlich auch der Geschichte der Kinderheime verpflichtet und
müssen und wollen uns deshalb auch damit auseinandersetzen, was damals passiert ist.
BZ: Könnten ähnliche Fälle in den Einrichtungen heute auch vorkommen?
Riegraf: Die Jugendhilfe, wie sie seit den 90er Jahren praktiziert wird, kann man mit der Situation und auch mit der
Belastung der Schwestern damals überhaupt nicht vergleichen. Der pädagogische Ansatz ist heute insgesamt ein ganz anderer.
Wir wollen nicht mehr eine Familie ersetzen, sondern sie ergänzen und unterstützen. Die Einrichtungen sind dadurch viel
offener geworden. Auch wissen wir heute, dass es sexuelle und gewalttätige Übergriffe überall in der Gesellschaft gibt.
Deshalb haben wir auch konkrete Strategien, sie zu vermeiden oder, im schlimmsten Fall sofort und angemessen zu reagieren.
BZ: Wie würde reagiert werden, wenn es zu Gewalt gegenüber Kindern käme?
Riegraf: Ganz abgesehen davon, dass unsere Mitarbeiter schon in der Ausbildung Trainingskurse durchlaufen, um solche
Situationen zu vermeiden, sind wir verpflichtet, auch den allerkleinsten Vorfall den Erziehungsberechtigten, dem Jugendamt
und der Heimaufsicht, in dem Fall dem Landesjugendamt, zu melden. Je nach der Schwere des Vorfalls werden dann
gemeinsam Lösungen gefunden oder schnell Konsequenzen gezogen.
BZ: Inwieweit können Sie Betroffenen von früher helfen?
Riegraf: Zunächst einmal sind unsere Türen und unsere Ohren für jeden Betroffenen weit offen. Es gibt natürlich auch die
Möglichkeit, Einblick in die Akten zu nehmen, sofern wir sie haben. Ich kann mir auch vorstellen, den Kontakt zu den
Schwestern herzustellen, wenn das gewünscht wird. Eine direkte therapeutische Hilfe können wir wohl nicht anbieten. Das
wäre auch generell durch die Verknüpfung mit dem Ort problematisch. Aber wir können Hilfe vermitteln.
“Gut, dass es öffentlich wurde”
Nach BZ-Bericht über Misshandlungen in ehemaligen Kinderheimen kümmerte sich die
Caritas um rund ein Dutzend weitere Opfer.
BAD SÄCKINGEN/RICKENBACH. Turbulente Wochen liegen hinter Martin Riegraf, Geschäftsführer des
Caritasverbandes Hochrhein, und Dieter Weisser, Abteilungsleiter bei Pro Juve. Nachdem Betroffene der Badischen
Zeitung von Misshandlungen in den Kinderheimen St. Fridolin in Bad Säckingen und Marienwald in Rickenbach
berichtet hatten, meldeten sich bei ihnen noch rund ein Dutzend weiterer ehemaliger Bewohner mit ähnlichen
Geschichten.
"Es war gut, dass dieses Thema öffentlich wurde", betonen Martin Riegraf und Dieter Weisser im Gespräch mit der
Badischen Zeitung. Gut in erster Line für die früheren Opfer, die in den meisten Fällen auch heute noch schwer
unter dem Erlebten leiden. Gut aber auch für die Pro Juve Caritas Jugendhilfe Hochrhein, die die beiden Heime im
Jahr 2000 vom Schwesternorden vom Heiligen Kreuz in Altötting übernommen hat. Rund ein Dutzend Betroffener aus
ganz Deutschland hat sich seit dem BZ-Bericht am 25. März bei der Pro Juve gemeldet. Ihnen sei es vor allem darum
gegangen, nach langen Jahren des Schweigens ihre Geschichte erzählen zu können und mit ihren Erinnerungen auf
echtes Interesse zu stoßen. "Abrechnung oder gar Strafverfolgung war nie ein Thema", sagt Weiser. "Wie ein roter
Faden durch fast alle Gespräche hat sich auch die Frage nach den heutigen Verhältnissen in den beiden Heimen
gezogen", ergänzt Riegraf. "Die Bewohner von damals wollten einfach sicher sein, dass das, was sie erlebt hatten,
heute nicht mehr möglich ist." Einige ließen sich die heutigen Einrichtungen zeigen, andere wollten ihre Akten von
damals sehen. Immer war Fingerspitzengefühl gefragt. "Es gab schon die Situation, in denen ich mich gefragt habe,
ob mein Gesprächspartner in der Lage ist, den Inhalt seiner Akten richtig einzuordnen", erzählt Riegraf. Mit Dieter
Weisser war er sich einig, dass es in den Gesprächen nicht darum gehen konnte, die ehemaligen Bewohner der
Heime zu therapieren. "Wir haben in erster Linie zugehört."
Der BZ-Artikel hat nicht nur viele ehemalige Bewohner der Kinderheime erschüttert, sondern auch die Schwestern,
betont Martin Riegraf. Aber er habe auch dazu geführt, dass viele der Schwestern Zuspruch von ehemaligen
Schützlingen bekommen haben. "Es gab durchaus auch die Signale, dass sie eine gute Arbeit gemacht haben", sagt
Martin Riegraf. "Das hat mich gefreut." Anhand der Berichte der Betroffenen können Riegraf und Weisser eine
gewisse Entwicklung in den Kinderheimen nachvollziehen, die auch der in anderen Einrichtungen entspreche. Am
schlimmsten sei die Situation wohl in den 50er und der ersten Hälfte der 60er Jahre gewesen. Die Öffnung der
Erziehungsstile in der Gesellschaft habe sich in den Heimen niedergeschlagen. Je später die Betroffenen in den
Heimen waren, desto eher betonen sie, dass es positive Erlebnisse gegeben habe.Auch wenn die vergangenen
Wochen nicht sehr angenehm gewesen seien, sind Riegraf und Weisser dennoch froh, dass die Misshandlungen in den
Heimen in Bad Säckingen und Rickenbach öffentlich wurden. "Nach den Diskussionen, die in den vergangenen
Monaten in den Medien stattgefunden haben, war klar, dass kein Betreiber einer Kinder- und
Jugendlichenbetreuungseinrichtung davon ausgehen konnte, dass gerade dort kein Missbrauch oder keine
Misshandlungen stattgefunden haben; deswegen waren wir beinahe froh, dass wir Bescheid wussten und aktiv
werden konnten", sagt Riegraf. Er betont, dass Pro Juve und damit auch die Caritas zwar nicht nicht im rechtlichen
Sinne verantwortlich für die Geschehnisse in der Vergangenheit ist, sich aber sehr wohl verantwortlich für die
Betroffenen fühlt und ihren Teil zur Bewältigung der Folgen beitragen will. "Wir sind deshalb auch weiterhin für
jeden Betroffenen immer ansprechbar."
Gewalt in Kinderheimen in Bad Säckingen und Rickenbach
Schläge mit dem Besen, dem Handfeger, dem Stock: Nahezu zeitgleich erheben ehemalige
Bewohner des einstigen Kinderheims St. Fridolin in Säckingen und des Hauses Marienwald in
Rickenbach schwere Vorwürfe gegen Ordensschwestern vom Heiligen Kreuz.
BAD SÄCKINGEN / RICKENBACH. Schwester Hedwig, die Provinzoberin des Ordens in Altötting, ist tief betroffen und bittet alle
Opfer um Entschuldigung. Es ist eine tränenreiche Recherche: Schwester Hedwig ringt am Telefon ebenso mit der Fassung wie
Bernd Schmidt (Name von der Redaktion geändert), den ganz schlimme Erinnerungen an seine Kindheit im Heim St. Fridolin in
Säckingen plagen. Er leidet noch heute ebenso unter den Geschehnissen jener Jahre wie die Geschwister Antje, Birgit und
Klaus (Namen ebenfalls geändert), die im Heim in Rickenbach aufwuchsen.Heute leidet Schwester Hedwig, die Provinzoberin
der Schwestern in Altötting, mit ihnen: "Wir sind erschrocken und betroffen, wie Ehemalige ihre Zeit in den Kinderheimen in
Erinnerung haben. Die Schwestern haben sich zum Wohle der Kinder eingesetzt und trotzdem ist Unrecht geschehen und es
gab zu dieser Zeit körperliche Strafen. Das tut uns Schwestern sehr leid und wir bitten um Entschuldigung. Wir sind jederzeit
bereit, mit den Betroffenen ins Gespräch zu kommen."
Hass auf Nonnen
Bernd Schmidt stammt wie viele der Kinder in den beiden Heimen in den 60er- und 70er-Jahren aus schwierigen familiären
Verhältnissen. "Herr Schmidt und seine Geschwister sowie sein bester Freund haben heute noch psychische Probleme und sind
der Alkoholsucht verfallen", schreibt dessen frühere Lebensgefährtin, eine Regierungsangestellte in einem anderen
Bundesland. Schmidt ist heute 48 Jahre alt und lebte von seinem ersten bis zu seinem zehnten Lebensjahr gemeinsam mit
drei Geschwistern und zwei Stiefgeschwistern in St. Fridolin.Er berichtet von Schlägen und davon, dass "die Schmidts" häufig
kollektiv abgestraft wurden. Stundenlang hätten er und die Geschwister in der Ecke stehen müssen, während sich die
anderen Heimkinder im Schwimmbad vergnügen durften. Und wehe, einer der Buben habe einmal neben das Urinal gepinkelt.
Dann hieß es, in Reih’ und Glied antreten und jedem wurde der uringetränkte Putzlappen ins Gesicht gedrückt. Schmidt
befand sich mehrmals in stationärer psychotherapeutischer Behandlung. Seinen "Hass auf Nonnen" haben die Therapien nicht
mildern können.
Schläge mit dem Besen, dem Handfeger, dem Stock"Das hätte einfach nicht passieren dürfen" – der Satz fällt immer wieder im
Gespräch mit Antje, Birgit und Klaus. Die drei Geschwister lebten in den 60er- und 70er-Jahren gemeinsam mit weiteren
Geschwistern im Kinderheim in Rickenbach. Mit der Formulierung, was dieses "das" ist, tun sie sich schwer. Zu normal waren
die Prügel, denen sie ausgesetzt waren. Es waren Schläge "mit dem Besen, dem Handfeger, dem Stock – was halt grad zur
Hand war." Sie wurden an den Haaren gerissen und mit dem Kopf an die Wand geschlagen.Besonders schlimm sei es für die
Jungs gewesen, "es war, als hätten die Nonnen einen Hass auf Jungen", sagt Antje. Klaus nickt. Er braucht Zeit, um sich auf
das Gespräch einzulassen. Nur so viel sagt er: "Seit dem Jahr 2000 bin ich verrentet, wegen der Psyche." Die Erlebnisse von
früher holten ihn immer wieder ein. Später erzählt er von vermummten Nonnen, die nachts in das Schlafzimmer der
Krabbelgruppe kamen und wahllos Kinder aus dem Bett rissen und schlugen. Dass seine Angst so groß war, dass er sich lange
auf keinen Dachboden und in keinen Keller getraut hat. Seine Schwestern berichten davon, dass sie nicht schlafen durften,
wenn sie nicht artig waren. Dann mussten sie im Nachthemd vor dem Schlafsaal stehen, bis eine Nonne den Bann wieder
aufhob.Antje und Birgit betonen, heute hätten sie ihr Leben im Griff, das war aber nicht immer so. "Meine erste Tochter
musste ich ins Heim geben, ich hatte keine Liebe für sie, erzählt Birgit. Eine zweite Tochter sei schwer depressiv, ein Sohn
habe sich vor den Zug geworfen. Antje hat die heile Familie, die sie sich so sehr gewünscht hat, nicht gefunden, seit einem
Jahr ist die Scheidung durch. Mehr sagt sie nicht.
DIE KINDERHEIME
Als "Erziehungsanstalt für arme Kinder" wurde 1857 vom damaligen Frauenverein Säckingen ein Kinderheim gegründet.
Personelle Unterstützung leisteten von Anfang die Schwestern vom Heiligen Kreuz aus der Schweiz. Sie kauften 1916 auch das
Heim in Rickenbach. 1956 übernahm die deutsche Provinz der Schwestern vom Heiligen Kreuz in Altötting die Regie in beiden
Häusern. An beiden Standorten entstanden Heimschulen. Im Jahr 2000 übernahm der Caritasverband Hochrhein die
Geschäftsführung. Seit 2004 ist die Caritas Jugendhilfeeinrichtung Pro Juve als Rechtsnachfolger des Heilpädagogischen
Förderzentrums Träger beider Einrichtungen. Sie unterhält heute in Bad Säckingen mit Außenstelle in Rickenbach unter
anderem die Schule St. Fridolin, eine Förderschule für Erziehungshilfe.